Es war ein Donnerstag, der den Lebenslauf von Tim Wiese um eine nicht ganz unbedeutende Kategorie erweiterte. Dort stand bisher lediglich „Bundesligatorhüter“. Am 14. August 2008 kam „Nationalspieler“ hinzu. Rene Adler, damals die Nummer Zwei hinter Robert Enke, zog sich im Training eine Verletzung zu, Bundestrainer Löw hatte plötzlich einen Torwart zu wenig. Wiese war fit. Und stand bereit.
Nach dem mehr oder weniger freiwilligen Rücktritt von Jens Lehmann nach der EM 2008 waren Enke und Adler zur Nummer Eins bzw. Nummer Zwei aufgerutscht. Ein eindeutiges Bekenntnis zu dieser Rangfolge fehlte – und fehlt bis heute. Das Volk gab damals in mehreren Medien seine eindeutige Meinung ab. Adler, und nicht Enke, sollte die Nachfolge von Jens Lehmann antreten, was verständlich war nach den Leistungen des Leipzigers in Diensten von Bayer Leverkusen in jener Zeit. Doch wie für jeden Torhüter irgendwann, kam auch für Adler eine Zeit, in der er sich am liebsten aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hätte. Der 24-Jährige machte Fehler, auf dem Platz wohlgemerkt, nicht daneben. Das war immer eher das Metier von Tim Wiese. Mehrfach hatte er nach Nominierungen, bei denen er mal wieder übergangen worden war, trotzig seinen Unmut in jede Kamera und jeden Journalistenblock geäußert, die ihm unter die Nase gehalten wurden. Das hat seinem Ansehen bei Joachim Löw natürlich nicht geholfen, der hatte mit Gegentrotz reagiert und Wiese weiter ignoriert. Bis zum 14. August 2008.
Wiese nach seiner der Nominierung: „Jetzt habe ich den Fuß in die Tür bekommen.“
Und er ließ ihn drin. Mit souveränen Auftritten in der Bundesliga und vor allem souveränem Auftreten bei der Nationalmannschaft. Wenn man Wiese dort sieht, ist er manchmal nicht wiederzuerkennen. Ruhig, besonnen, fast unauffällig verrichtet er seine Arbeit – und zwar herausragend. Das hat nicht nur mit den elf Kilogramm zu tun, die er nach und nach nicht nur an Muskelmasse abbaute, sondern auch mit einer neuen Mentalität. Flapsig könnte man sagen, dass Wiese nun weiß, wie der Hase läuft. Formal, dass Wiese erwachsen geworden ist. Das hat gedauert, der Mann ist bereits 27, aber bei Torhütern dauert es eben manchmal ein bisschen länger. Vor allem bei solchen, die den Großteil ihrer Jugend auf dem Trainingsplatz oder im Kraftraum verbracht haben. Doch vielleicht hat es genau rechtzeitig „klick“ gemacht.
Denn in einer Zeit, in der Deutschlands Torhüter „nicht weltklasse“ sind, ist Wiese einer der besseren und könnte die unerwartete, aber richtige Antwort auf die in Deutschland derzeit diskutierte T-Frage sein. Adler, Neuer und vielleicht auch Rensing mögen große Talente sein, Enke ein solider Bundesligatorwart, doch allein Wiese kann von sich behaupten, regelmäßig auf hohem Niveau Spielpraxis gesammelt zu haben und dadurch gewachsen zu sein. Er hat in der Champions League und Uefa-Cup gehalten, dort in den von Fußballern begehrtesten Arenen der Welt denkwürdige Spiele gemacht: in Barcelona, Madrid, Rom, Mailand, Glasgow und, ja, auch in Turin. Es ist der Part im Fußballer-Leben von Tim Wiese, dessen Bilder er wohl am ehesten ausradieren würde aus seiner Karriere, wenn er denn könnte…
Der bitterste Moment im Leben eines Torhüters ist der direkt nach einem Fehler. Weil dann zahlreiche Spieler auf einen zukommen, um einem Mut zuzusprechen, als wäre alles halb so schlimm. Doch schlimmer als in einer KO-Runde kurz vor Schluss und gegen eine italienische Mannschaft einen Fehler zu machen, ist eigentlich nur Mitte der zweiten Halbzeit in einem WM-Finale gegen Brasilien einen Fehler zu machen. Wiese hat seinen „Kahn“ schon hinter sich und sich davon nicht unterkriegen lassen. Im Gegenteil. Er hat nicht nur auf der Linie die Qualität, sondern auch in Sachen Strafraumbeherrschung und Spielaufbau zu seinen Kollegen Lehmann (Strafraumbeherrschung) und Adler (Spielaufbau) aufgeschlossen. Dass Manuel Neuer in Topform im Spiel nach vorne eine Klasse für sich ist, erstens aber nicht in Topform ist und sich zweitens gerade einen Patzer in einem Bereich erlaubt hat, in dem man ihn eigentlich für stabil hielt, ist klar. Dass es bei Robert Enke schwerfällt, eine andere Stärke als seine altersbedingte Erfahrung aufzuzählen, spricht für sich.
Die Entscheidung, wer bei der WM 2010 in Südafrika im Tor steht, fällt zwischen Rene Adler und Tim Wiese. Wieses Vorteil ist nicht nur seine internationale Erfahrung, sondern auch, dass mit ihm niemand wirklich rechnet. Es kann gut sein, dass sich einige Journalisten noch wundern werden. Tim Wiese arbeitet daran, neben „Bundesligatorhüter“ und „Nationalspieler“ auch „(aktiver) Weltmeisterschaftsteilnehmer“ in seinen Lebenslauf schreiben zu dürfen. Ich meine, seine Chancen stehen besser denn je.
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Achja, und bitte nicht vergessen euch meinen ersten komplett selbst erstellten, getexteten und gesprochenen Beitrag bei KickerTV anzuschauen. Thema: Hertha BSC: >KLICK<